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Alt 11.08.12, 18:04:57
Zahl
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Ich war ehrlich gesagt überrascht, dass das tatsächlich jemand als "an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten" sieht. Mir würden da spontan ca. 100 Aussagen einfallen, die um ein paar Größenordnungen geschmackloser wären, wenn nicht sogar strafbar. Entweder eine sehr naive oder absichtlich überzogene Aussage.
Ich teile die Ansicht über den Spruch aus mehreren Gründen nicht.
Zum einen die Feststellung, dass Möllemann eine Person des öffentlichen Lebens war. Hier sieht allein schon die Rechtssprechung vor, dass mit der Privatsphäre dieser Personen anders umgegangen werden darf.
Dann, und vor allem damit Verbunden, sehe ich den Umstand des Selbstmords. Wäre es ein tragischer Unfall oder gar Mord gewesen, sähe das ganze schon wieder anders aus. Aber wer Problemen, die in diesem Fall sogar selbstgeschaffen waren, auf diese Weise entflüchten muss, hat zumindest von mir aus wenig Respekt zu erwarten.
Auch würde ich wahrscheinlich sofort handeln, wenn plötzlich ein direkter Angehöriger auf unseren Server gestoßen wäre.

Aber ehrlich gesagt finde ich die Werte in unserer Gesellschaft gegenüber dem Tod ziemlich verschroben und schizophren. Schnell werden Phrasen gedroschen wie "Respekt den Toten" oder "über Tote nur Gutes"... Aber meist sind es dann genau diese politisch überkorrekten Leute, die als erstes über Hitler-Parodien in Filmen oder Comedysendungen lachen. Über die Toten nur gutes? Plötzlich heißt es ganz schnell "ja aber das ist doch was völlig anderes!" Plötzlich gibt es doch wieder einen Fall, wo das natürlich nicht gilt. Und ich will ja auch nicht bestreiten, dass Genozid auf einer ganz anderen Seite steht, als den Staat um 3 Millionen Euro zu bescheißen, aber ein bisschen Heuchelei schwingt mir dabei schon mit. Witze über Kurt Cobains ableben habe ich auch schon mehr als einmal gehört/gesehen. Ehrlich gesagt finde ich da Witze über noch lebende Menschen denen etwas Schlimmes passiert ist deutlich fragwürdiger, da diese das ja noch mitbekommen können. Niki Lauda Witze zählen da mit Sicherheit zu, die ich auch schon im Fernsehn erlebt habe (wobei das Fernsehn ja nun alles andere als der Maßstab für Moral und Integrität ist).

Zu Guter Letzt der Umgang des Einzelnen mit dem Tod. Dies gehört jetzt nicht mehr direkt zum Kernthema, passt aber dennoch etwas, da dieses Thema ja auch angeschnitten wurde: Ich habe schon drei Personen aus dem nahen Familienumfeld verloren, daher auch nahegehende Erlebnisse gemacht, und mich besonders beim Tod meiner fast gleichaltrigen Cousine intensiver mit dem Tod, seiner Rolle in der Gesellschaft und ihrem Umgang damit befasst. Zu dem Thema gibt es einige interessante Bücher, unter anderem z.B. von Bestattern geschrieben, die nochmal einen ganz anderen Blick auf die Dinge geben können.
Dabei ist mir klar geworden, dass eigentlich alle versuchen, den Tod so weit es geht aus dem Alltag zu verdrängen, nicht darüber nachzudenken, oder ihn so gut es geht zu abstrahieren und verschleiern. Damit angefangen, dass der Tote sofort aus der Wohnung geschafft wird, und sich eine Maschinerie von Unternehmen um alles kümmern wird. Als erstes die Aufbahrung der Toten: Der Leichnam wird zurechtgestyled, geschminkt, und so lebendig wie möglich aussehen gelassen. Der Tod wird förmlich übermalt. Der Sinn dieser Zeremonie, den Tod zu begreifen und zu akzeptieren, wird ad absurdum geführt, weil wir ihn nicht sehen. Auch die Trauerfeiern danach kamen mir sehr merkwürdig vor. Ich habe nicht erwartet, dass es eine klischeeartige Gedenkfeier wird, auf der am laufenden Bande heldenhafte Geschichten auf dem Leben des Verstorbenen erzählt werden, aber ich habe fast an allen Ecken entweder nur beklommenes Schweigen, ganz andre Themen, oder Gespräche über noch folgende Wohnungsauflösungen, finanzielle Dinge etc. gehört.
Genau hier liegt dann das Problem. Die Angehörigen haben wegen des ganzen Verwaltungsaufwands, der mittlerweile einen Tod begleitet, überhaupt keine Zeit, die Ereignisse zeitnah zu begreifen und zu verarbeiten. Man durchlebt diese kurze Zeit mit einer Betäubtheit, weil man aufgrund des Stresses überhaupt nicht dazu kommt, die Ereignisse sacken zu lassen, und zu trauern. Das setzt dann so richtig erst einige Tage nach der Beisetzung ein, und die engsten Hinterbliebenen scheinen aufgrund der Überschlagung der Ereignisse nun eine starke Leere zu spüren; nicht nur, weil sie jemanden verloren haben, sondern auch weil sie überhaupt keine Zeit hatten, sich richtig von dem Toten zu verabschieden. So etwas bewusst aufzunehmen dauert nämlich einfach etwas.
Und ich bin der Überzeugung, dass Meinungen wie "über tote nur Gutes" eben aus genau den gleichen Motivationen entstanden sind: Den Tod ausblenden.

Ist es denn wirklich so respektlos, wenn man einen Witz über die Tatsache reißt, dass jemand sich nun mal dazu entschieden hat, sein Leben auf eine bestimmte Art zu beenden? Das ist einfach die Realität, und man sollte damit umgehen.
Ich finde es skurril, dass in Film und Fernsehn so direkt mit dem Tod umgegangen wird, dass in einer Zeichentrickserie regelmäßig ein achtjähriges Kind tödlich verunglückt oder ermordet wird, was von allen als unterhaltsam angesehen wird. "Es ist ja nur Fiktion." In allen möglichen Situationen heißt es, dass Humor hilft, eine angespannte Situation aufzulockern. Eine neckische Auseinandersetzung mit dem Tod eines Politikers ist jedoch geschmacklos.

Jeder der schon etwas länger hier im Forum unterwegs ist sollte wissen, dass ich der erste bin, der für blöde und kindische Witze zu haben ist, und gerne anderen Leuten auf den Senkel geht. Einfach weil ich mir denke, dass ich nicht unbedingt jünger werde, und wahrscheinlich immer weniger die Gelegenheit haben werde, einfach mal irgendwas zu machen, ohne ständig über die Konsequenzen oder Einfluss auf mein Umfeld, Arbeitsleben nachdenken zu müssen. als Student hat man wahrscheinlich den Höhepunkt in dieser Hinsicht erreicht. Das heißt aber nicht, dass ich mir keine Gedanken über die Welt, unsere Gesellschaft, oder weiß ich was mache. Ich blende es hier aber oft aus. Ich hoffe ich konnte aber darlegen, welche Einstellung ich dem Tod gegenüber habe, und dass dieser Spruch nicht einfach "irgendwelcher Scheiß" ist, den ich mir besoffen nachts um halb drei ausgedacht habe. Das muss jetzt aber natürlich auch nicht heißen, dass jeder gleich deswegen den Spruch super findet. Aber vielleicht habe ich ja trotzdem zum Nachdenken angeregt. Außerdem haben wir ja sonst noch kaum Meinungen dazu gehört.


風向轉變時,有人築牆,有人造風車